No Geography

No Geography

Wenn wir „No Geography“ als das gewagteste Album der Chemical Brothers der letzten 20 Jahre bezeichnen – und das ist es definitiv – liegt das insbesondere daran, dass sich Tom Rowlands und Ed Simons bei der Produktion an den 90er‑Jahren orientieren. Es war eine Zeit, in der sie im Vereinigten Königreich ihren Teil dazu beitrugen, Dance Music radikal neu zu definieren. Um diese Experimentierfreude auf ihrem neunten Album wiederzubeleben, grub das Duo alte Sampler aus, die bereits bei ihren ersten beiden Alben zum Einsatz kamen. „Ich habe im Studio eine Ecke eingerichtet, die ich ‚The 1997 Corner‘ taufte“, verrät Tom gegenüber Apple Music. „Das Equipment war ziemlich rudimentär, in etwa so, wie ich es vor langer Zeit in meinem Schlafzimmer eingerichtet hatte. In diesen alten Samplern steckt ein sehr individueller Sound und die begrenzten Möglichkeiten spornen dich an, beim Verwenden der Samples und beim Arrangieren kreativer zu sein.“ Ein weiterer inspirierender Throwback war, in den Live-Sets unfertige Tracks zu spielen – mit dem Ergebnis, dass sich diese auf der Bühne weiterentwickeln und verändern konnten, wie das auch schon bei der Entstehung von „Exit Planet Dust“ (1995) und „Dig Your Own Hole“ (1997) der Fall war. Herausgekommen ist ein treibender, aggressiver und atmosphärischer Sound, der Breakbeats, Samples und verschiedene Facetten der Dance Music mit psychedelischen und melodischen Elementen verschmelzen lässt. Hier führt uns Tom durch das Album – Track by Track: „Eve of Destruction“ „Ich hab [die norwegische Alternative-Pop-Ikone und Singer-Songwriterin] Aurora im Fernsehen gesehen, als sie auf dem Glastonbury-Festival spielte. Ich war total geflasht von der Power ihrer Stimme und ihrer authentischen Ausstrahlung. Sie kam vorbei und wir hatten eine inspirierende Zeit im Studio. Sie war so offen für Neues und hatte selbst unzählige Ideen. Sie hatte den Einfall, diese Göttin der Zerstörung in „Eve of Destruction“ einzubauen. Der Track fängt mit einer bedrohlich wirkenden verzerrten Stimme an, lässt dann aber immer mehr eine partyähnliche Stimmung aufkommen. Die Reaktion auf diese unheilvolle und furchteinflößende Atmosphäre der Lyrics ist, einen draufzumachen, sich mit anderen zu treffen, feiern zu gehen, Freunde zu finden und mit Gleichgesinnten abzuhängen.“ „Bango“ „Auroras Reaktion auf ein paar Musikschnipsel, die ich ihr vorspielte, war absolut überraschend, brillant und inspirierend. Ich spielte ihr [für ‚Bango‘] was vor und aus ihr sprudelten toughe Begriffe und Ideen heraus über unausgewogene Beziehungsdynamiken und Götter, die dich ihren Zorn spüren lassen. Das ist genau das Aufregende an der Zusammenarbeit mit anderen Künstlern: Am Ende entsteht etwas, auf das keiner von uns alleine gekommen wäre.“ „No Geography“ „Das Vocal-Sample stammt aus einem Gedicht von Michael Brownstein, einem New Yorker Lyriker, der in den 70er-Jahren sehr bekannt war. Es gab da dieses ‚Dial-A-Poem‘-Projekt, bei dem du anrufen und dir von Dichtern etwas vorlesen lassen konntest. In dem Gedicht scheint es darum zu gehen, dass die physische Entfernung zwischen Menschen kein Hindernis für ihre Beziehung darstellt. Aber im übertragenen Sinn heißt das, dass uns Menschen etwas verbindet und wir alle etwas gemeinsam haben. Wir müssen uns klarmachen, dass wir alle voneinander abhängig sind – das nehme ich jedenfalls an.“ „Got to Keep On“ „Hier hast du die spritzigen Drums, das ‚Got to keep on making me high‘-Sample [von Peter Browns ‚Dance with Me‘] und noch diesen abgefahrenen, seltsamen Moment in der Mitte. Der ist bei einer Nachtsession im Studio entstanden, was alles so schräg wie nur möglich macht – lauter Rückkopplungen und die Maschinen fangen an zu kreischen. Eigentlich ist es zu viel. Und wenn’s zu viel ist, ist es gerade genug. Und dann löst es sich auf und die Glocken setzen ein. Wir lieben es, heftige psychedelische Momente in unsere Musik einzubauen, die sich dann in pure gute Laune verwandeln. Dann merkst du, dass du gerade noch durchgehalten hast. Für uns fühlt sich das einfach natürlich an.“ „Gravity Drops“ „Das ist der erste Track auf dem Album, der dem Hörer etwas Zeit zum Durchatmen gibt. Zwar gibt es wuchtige Beats, doch die Musik gleitet einfach so dahin und dann sind da noch diese treibenden ‚d-d-d-drong‘-Parts. Das kommt dabei heraus, wenn du im Studio alles so arrangierst, als würdest du live spielen. Wir haben unzählige Instrumente und Prozessoren aufgestellt, damit wir den Track wie bei einer Jam-Session spielen können und wollten schauen, wo wir landen. Wir haben bei diesem Track definitiv versucht, ein paar Abschnitte reinzubringen, bei denen wir so richtig ausflippen können. Und ja, wir sind ausgeflippt.“ „The Universe Sent Me“ „Eigentlich haben wir diesen Track Aurora zu verdanken, weil sie all diese fantastischen Bilder in unseren Köpfen erzeugte. In diesem Sound steckt nicht nur viel Ideenreichtum, sondern auch viel Bewegung drin. Es gibt einige Momente, bei denen es sich fast so anfühlt, als würde der Track auf dem Weg zum Höhepunkt aus der Umlaufbahn geschleudert, doch dann fängt er sich wieder. Ich würde es als eine rastlose psychedelische Reise beschreiben.“ „We’ve Got to Try“ „Der Song erinnert mich an die Platten, die wir im [legendären Londoner Club] The Social gespielt haben, als wir damals anfingen. Wir legten neben abgefahrenem Acid auch ziemlich viel Soul auf. Als wir diesen Track gemacht haben, hat es mich daran erinnert – an diese Idee, die wir zwar verfolgten, aber mit unserer eigenen Musik nie wirklich erreicht haben. Wäre dieser Song damals in unserem Plattenkoffer gewesen, hätten wir sofort gesagt: ‚Wow! Das ist genau der Sound, den wir spielen wollen.‘“ „Free Yourself“ „Hier haben wir noch mal jemanden von ‚Dial-A-Poem‘ gesampelt – die Lyrikerin Diane di Prima. Diese Vocals haben wir immer gern in den Clubs gehört. Es war sehr aufregend, diesen Track in einen anderen Kontext zu stellen, um ihm eine neue Bedeutung zu geben. Wir haben ihn 2018 sehr oft live gespielt und das hatte enormen Einfluss darauf, wie die finale Version jetzt klingt. Er hat auch diese ‚Waaaaaaaaaaaaaah’-Sounds. Wir mögen einfach diese Geräusche, die dich sofort ins Delirium stürzen.“ „MAH“ „Früher hätten wir wahrscheinlich gedacht, dass dieses Sample [die Zeile ‚I’m mad as hell and I ain’t going to take it no more‘ von El Cocos ‚I’m Mad as Hell‘] zu wuchtig ist, um es zu verwenden. Aber es hat unglaublich Spaß gemacht, es live zu spielen – besonders der Moment, wenn nach den Vocals die Musik einsetzt. Wir gehören eigentlich nicht zu den Künstlern, die ihre Gefühle nach außen transportieren, jedoch entstand die Platte in einer Zeit, in der es jeden Tag landesweite Diskussionen und Auseinandersetzungen [im Vereinigten Königreich] gab. Auch wenn wir hier ein Sample für uns sprechen lassen, das ein Statement aus einer anderen Zeit in einem anderen Kontext ist, haben wir bei der Aufnahme dieses Songs unsere Gefühle gesammelt und kanalisiert: ‚Ja, das drückt genau das aus, was ich gerade fühle.‘“ „Catch Me I’m Falling“ „Einer der gesampelten Vocal-Parts ist von Stephanie Dosen, mit der wir auf ‚Further‘ und beim Soundtrack für ‚Hanna‘ zusammengearbeitet haben. Er stammt von einem Track der Band Snowbird, das sind Stephanie und Simon Raymonde, der früher mal bei den Cocteau Twins war. Das andere Vocal-Sample ist von [Emanuel Laskeys] ‚A Letter from Vietnam‘, diesem sehr gefühlvollen Song von 1968. Stephanie singt ganz anders – in einem anderen Raum, in einer anderen Zeit. Doch die Musik, die wir geschrieben haben, bringt diese beiden verschiedenen Dinge irgendwie zusammen und gibt dem ganzen einen neuen Sinn. Aber der Sinn ergibt sich nur, wenn das Ergebnis etwas ist, das du dir auch anhören möchtest, wenn es etwas ist, das dich bewegt.“

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